Ausgabe Dezember 2017 / Januar / Februar 2018 – Thorsten Dietz, Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg

 

Der Missbrauch mit dem Thema Sünde
Vielfach wird heute beklagt, dass die meisten Menschen heute die biblische Wahrheit über die Sünde nicht mehr wahrhaben wollen. Verschiede- ne Ursachen haben dazu beigetragen.

 

Für einen wichtigen Faktor halte ich den Umstand, dass das Thema Sünde in der Kirchengeschichte immer wieder missbraucht wurde, um andere Menschen auszugrenzen und abzuwerten. Sünde war immer der Makel der anderen. Klar, dass alle Menschen Sünder seien, war in der Kirche stets eine allgemeine Richtigkeit. In der Praxis aber waren Sünder immer die anderen. Und wenn darüber geredet wurde, dann hart und anklagend.

Im Grunde ist das eine tragische Geschichte: Wie kommt es, dass die biblische Erkenntnis, dass wir alle auf Gottes bedingungsloses Erbarmen angewiesen sind, so wenig Demut und Bescheidenheit zur Folge hat- te? An vielen Stellen warnt Jesus vor Richtgeist anderen gegenüber: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1). Sünde sollte Jesus zufolge zuallererst eine Frage der Sache der Selbsterkenntnis sein: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen! – und siehe, ein Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“ (Mt 7,3-5) Allzu viele Menschen haben im Laufe der Geschichte Christen in einer Weise erlebt, als würde diese Worte Jesu in ihrer Bibel vergessen worden sein. Wir müssen uns noch einmal neu besinnen, worum es beim Thema Sünde geht.

Was ist Sünde?
Sünde ist eine Beziehungsstörung. Denn so schreibt der Apostel Paulus: „Was nicht aus Glauben geschieht ist Sünde.“ (Röm 14,23; vgl. Mt 7,16-18) Wenn der Heilige Geist uns die Augen über die Sünde öffnet, dann geht es nicht vor allem um dieses und jenes Tun und Lassen, sondern um „Sünde: dass sie nicht an mich glauben“ (Joh 16,9). Darum geht es im Kern. Was Sünde ist, klärt sich nicht im Umgang mit moralischen Einzelfragen. Sünde ist zuerst eine Frage der Gottesbeziehung. Was bedeutet das? Sünde ist die Selbstbezogenheit, in der der Mensch sich selbst nur verfehlen kann, weil er als Geschöpf auf Beziehungen angelegt ist. Sünde ist Blindheit für das Gute, was Gott tut, Undankbarkeit für alles, was in unserem Leben Gabe und Geschenk ist.

Sünde lässt sich nicht mittels eines ewigen Regelkanons festlegen. Der neutestamentliche Umgang mit diesem Thema ist anspruchsvoller. Wenn der Apostel Paulus formuliert: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich“ (1. Kor 6,12) merken wir schnell: daraus lässt sich keine einfache Regelliste entwickeln. Wenn Paulus später fortsetzt: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient“ (1Kor 10,23-24) zeigt sich: Im Zentrum steht nicht eine Verbotslogik, was ich alles lassen muss, um nicht zu sündigen. Die biblische Logik ist umgekehrt: Entscheidend ist das Positive, das Gute, das aufbaut, das, was hilft und anderen dient. Der Maßstab ist die Liebe. Sünde ist eine Beziehungsstörung, das gilt für das Gottesverhältnis, aber auch darüber hinaus: Sünde ist alles, was der Liebe nicht gerecht wird. Sünde ist eine Beziehungsstörung, eine Entfremdung von Gott, von meinen Nächsten und mir selbst. Und weil der Gott der Bibel bedingungslose Liebe ist, ist das Wesen der Sünde Lieblosigkeit.

Vielgestaltigkeit der Sünde
Sünde hat unendlich viele Gesichter. Sie ist unerschöpflich wie das menschliche Leben; leider. Darum kann es keine ab- schließende Systematik geben, was genau Sünde ist und was nicht. So etwas gibt uns die Bibel nicht an die Hand. Man kann sündigen mit Gedanken, Worten und Werken. Durch Übertreibung und Untertreibung, mit besten Absichten oder fahrlässig, im Umgang mit Geld, Macht, Sexualität oder Wahrheit. In der christlichen Sündenlehre geht es um mehr als um Unmoral. Das griechische Wort für Sünde lautet wörtlich übersetzt Zielverfehlung. Seine Lebensbestimmung verfehlt der Mensch nicht nur auf moralisch fragwürdige Art und Weise. Sünde findet sich vielmehr auch im moralisch einwandfreien Leben.

Nicht nur der über die Stränge schlagende Mensch ist der Sünder: Mutlosigkeit, Rückzug, Einigelung sind ebenso Formen das wahre Leben zu verpassen. In ihrer Fixierung auf Übertretungen hat die traditionelle Rede von Sünde viel zu wenig auf diese Formen geachtet, mit denen man sein Leben verpfuschen kann. Das Leben wird auch da verfehlt, wo Menschen ihre eigenen Möglichkeiten nicht entdecken, ihre Gaben nicht entfalten und einsetzen. Und ja, das ist schlimm, es ist eine ungeheure Tragödie, wie viel menschliches Potenzial in dieser Welt ungenutzt bleibt, wie viele Träume ungelebt, wie viele Wünsche unausgesprochen. So von Sünde reden heißt, Menschen nicht klein zu machen, sondern sie an ihre wahre Größe zu erinnern; sie nicht zu entehren, sondern ihnen ihre Würde als Ebenbild Gottes zurückzugeben; sich nicht der Empörung über ihr Versagen hinzugeben, sondern der Hoffnung auf ihre wirkliche Entfaltung.

Im biblischen Sinne von Sünde sprechen heißt: Jesus Christus als Befreier und Erlöser groß machen. Darin unterscheidet sich die christliche Sündenerkenntnis von jedem Moralismus. Wenn unsere Rede über Sünde nicht Sehnsucht nach Heilung und Befreiung weckt, wenn unsere Worte als verletzend und nicht als heilsam empfunden werden, kann das daran liegen, dass dieser grundlegende biblische Horizont des Themas verloren ging.

Buchempfehlung
Thorsten Dietz gelingt es in seinem Buch „Sünde. Was Menschen heute von Gott trennt“ den scheinbar überkommenen, unzeitgemäßen und vielfach unverständlichen Begriff der Sünde für Menschen von heute wieder zu einer sinnvollen Vokabel zu machen. „Darf es einem Spaß machen über Sünde zu reden? Ja, wenn man das Buch von Thorsten Dietz gelesen hat auf jeden Fall. Denn Dietz schreibt differenziert und klar über ein großes und schweres Thema und dies auch noch federleicht und gut verständlich. Großartig kann ich da nur sagen und: Pflichtlektüre für alle, die sprachfähig werden wollen über ein wichtiges Thema, über das heute gerne geschwiegen wird.“, schreibt Tobias Faix in seiner Rezension.