Blickpunkt Dezember 2024 / Januar / Februar 2025 – Tobias Wagner, Würzburg
„Die schweren Portale der (methodistischen) Wesley-Kapelle in der Broad Street (Nottingham) wurden soeben geschlossen. Man hörte nichts als das Knistern und Rauschen der Festtagsgewänder. Feierlich schritt der Geistliche auf seinen plüschgepolsterten Thronsessel zu (…). Da öffnete sich noch einmal die große Flügeltür, und Booth betrat die Kirche und hinter ihm eine Gruppe heruntergekommener Gestalten. In zerfetzten Schuhen oder auch mit vor Schmutz starrenden Füßen trotteten sie über den sauber gebürsteten Teppich hinter der hohen und schlanken Figur ihres Anführers her“.
Die Biografie von William Booth (1829-1912), dem Gründer der Heilsarmee, war in meiner Kindheit eines meiner Lieblingsbücher. Und die obige Szene ist mir fest in mein Gedächtnis gebrannt. Endlich hat Booth, der auf der sprichwörtlichen Apfelsinenkiste in den Elendsvierteln von Nottingham Menschen aus den untersten Schichten der damaligen Zeit zu Christus einlud, eine Gruppe aufrichtig Interessierter gesammelt und will mit ihnen zum ersten Mal einen Gottesdienst besuchen. Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie die Szene weiterging. Viele der alteingesessenen Gläubigen waren mit diesen „Neu-Zugängen“ völlig überfordert. Hinterher wurde Booth vorgeworfen, bewusst die Andacht und Heiligkeit des Gottesdienstes besudelt zu haben. Beim Lesen drehte sich mir an dieser Stelle immer das Herz um. Das ist doch unser Ziel. Dass Menschen, die Jesus so offensichtlich brauchen, endlich unter Gottes Wort kommen. Wie kann man sie einfach so hinausschmeißen? Ich verstand es nicht.
Heute bin ich mit dieser Nottinghamer Gemeinde gnädiger als früher. Ich kann verstehen, dass sich die Gläubigen und der Pastor in dieser Situation völlig überfordert gefühlt haben. Dass ihre Reaktion vor allem Hilfslosigkeit ausdrückte, obwohl das keine Entschuldigung für ihr Verhalten Booth und den Suchenden gegenüber ist.
Wie müssen sich erst Maria und Joseph in den Wochen und Monaten nach Jesu Geburt gefühlt haben? Bestimmt hatten sie sich nach den turbulenten Ereignissen schon im Vorfeld der Geburt Jesu und der beschwerlichen Reise nach Bethlehem ihre Zukunft ruhiger und verlässlicher ausgemalt, als es dann kam. Die „heilige Familie“ bekam noch in der Nacht von Jesu Geburt weitere überraschende „Neu-Zugänge“. Die Hirten, eine ähnlich ansehnliche Truppe wie Jahrhunderte später in Nottingham, kamen, um den neugeborenen Heiland in der Krippe anzubeten. Gott selbst hatte seine Engel in die Nacht von Bethlehem gesandt, um den Hirten die frohe Botschaft zu verkünden. Und die Engelchöre ließen ihr Gloria durch den ganzen Himmel klingen. Jahre später würde Jesus einmal sagen, dass eine solche Freude im Himmel auch herrscht, wenn nur ein Sünder gerettet wird (Lk. 15,7).
Ich bewundere Maria und Joseph. Sie lassen in der Heiligen Nacht zu, dass Gott sie einbindet, um seine Wunder tun zu können. Sie stellen ihr ganzes Leben in Gottes Auftrag, für den Sohn Gottes zu sorgen. Sie wissen, dass mit diesem Kind alles neu wird. Instinktiv merken sie, dass dieses Kind nicht ihnen allein gehört. Wenn er wirklich der Messias der Juden und der Heiland der Welt ist, dann gehört er zu den Menschen, die durch ihn Rettung und neues Leben geschenkt bekommen werden.
Nach den Ereignissen der Heiligen Nacht kehrte etwas Ruhe in das Leben der kleinen Familie ein. Sie suchten sich in Bethlehem eine anständige Bleibe. Vielleicht arbeitete Joseph in seinem Beruf als Zimmermann, gute Handwerker wurden schon immer gebraucht. Die Monate gingen ins Land, bis eines Tages Maria und Joseph die nächsten „Neu-Zugänge“ ins Haus schneiten. Und wenn die Hirten schon überraschend waren, dann sind diese „Neu-Zugänge“ so ungefähr das Unerwartetste, was vorstellbar ist. Eine Karawane mit babylonischen Wissenschaftlern und Astronomen zieht durch die Hauptstraße von Bethlehem auf der Suche nach dem neugeborenen König der Juden!
Mindestens genauso überrascht wie die Einwohner von Bethlehem und Maria und Joseph müssen die Weisen selbst gewesen sein, als sie das kleine Provinznest Bethlehem mit ihren alten Machtzentren im Zweistromland verglichen. Hier sollte der König der Juden geboren worden sein? Schon Jerusalem war im Vergleich zu ihrer Heimat nicht sehr beeindruckend. Dort hatten sie zuerst gesucht, nachdem sie um die Geburt Jesu einen besonderen Stern am Nachthimmel entdeckt hatten. Seit der babylonischen Gefangenschaft vor 600 Jahren gab es eine permanente jüdische Bevölkerung in Babylon. Mit dem Prophet Daniel hatte damals einer der klügsten und frömmsten Menschen seiner Zeit am Hof der Babylonier Karriere gemacht. So konnten die Weisen von Prophezeiungen über einen kommenden König der Juden gewusst haben. Wie genau sie diesen Stern mit der Geburt dieses Königs in Verbindung brachten und wie er sie leitete, können wir heute nicht mehr wirklich nachvollziehen. Ich persönlich glaube, es war ein Wunder dessen, der das ganze Sternenmeer erschaffen hat. Mit Sicherheit können wir aber sagen, dass die Weisen keine Stubengelehrte waren. Sie sahen den Stern und machten sich auf die mehrmonatige beschwerliche Reise nach Israel, um dem neugeborenen König der Juden zu huldigen. In Jerusalem, der alten Hauptstadt angekommen, finden sie aber nicht den gesuchten neugeborenen König der Juden, sondern einen alten, von Verfolgungswahn geplagten Despoten und eine lethargische fromme Gesellschaft, die zwar wusste, dass der Messias irgendwann mal kommen sollte und dass er dann in Bethlehem geboren werden würde, die aber viel zu sehr damit beschäftigt war, den Status Quo für die Judenschaft unter der Herrschaft der Römer und dem edomitischen Königs Herodes zu bewahren. Nur nichts wagen, nur keine schlafenden Hunde wecken, war ihre Devise. Ich finde es erschreckend, dass der Einzige, der die Weisen wirklich ernst nahm, der brutale und gottlose König Herodes selbst war. Keiner der Schriftgelehrten oder Priester machte sich zusammen mit den Weisen auf den Weg in das wenige Kilometer entfernte Bethlehem. Und wenn es nur aus Neugier gewesen wäre, wie die Geschichte mit diesen besonderen Gästen ausging. Was für eine verpasste Chance! So waren es am Ende Hirten und Heiden, sozial Schwache und Magier, Ungebildete und Astronomen, die vor dem neugeborenen König der Juden anbetend auf die Knie fallen und ihm ihre Gaben darbieten.
Lieber Leser, haben Sie sich an der einen oder anderen Stelle in diesem Text ein Stück weit wiederentdeckt? Es stimmt: „Neu-zugänge“ haben im Reich Gottes zu allen Zeiten die Alteingesessenen herausgefordert. Sei es damals in Jerusalem, später in Nottingham oder heute in unseren Gemeinschaften. Denn sie hinterfragen das, was sich auch bei uns bewährt und eingeschliffen hat, sie bringen neue Sichtweisen auf alte Lebensfragen mit und verändern das gewohnte Miteinander. Gleichzeitig ist jeder von ihnen, jemand, der auf ganz individuellen Wegen vom Heiland der Welt gesucht und gefunden wurde, ein Wunder und ein Grund für ein Fest im Himmel! Mein persönlicher Wunsch ist, dass wir auch als LKGs unsere Gemeinden und Herzen für Menschen öffnen, die neu dazu kommen, damit sie bei uns geistliche Heimat finden können. Und vergessen wir nicht, jeder von uns war auch einmal ein „Neu- Zugang“.