Ausgabe Februar / März 2017 – Prof. Dr. Thorsten Dietz, Marburg
Luther lebte in einer anderen Zeit, mit ganz anderen Fragen als wir. Fast jeder Christ, der im Jahr des Reformationsjubiläums einmal versucht, Luthers 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 zu lesen, merkt dies schnell.
Wie kommt es, dass viele Christen bis heute das Gefühl haben, dass Luthers Christuszeugnis immer noch tröstet und aufrichtet? Luther wurde zum Reformator in Auseinandersetzung mit einer Frage, die auch uns nicht kalt lässt: Wie begegne ich meiner größten Angst?
Der Angst begegnen
„Vom Himmel durch Schrecken gerufen“ sei er Mönch geworden, schrieb Luther später einmal. Im Rahmen der zeitgenössischen Frömmigkeit galt der Eintritt ins Kloster als der sichere Weg zum Heil, der hoffnungsvollste Versuch, Frieden für eine verängstigte Seele zu finden. Angesichts eigener Todes- und Höllenangst sah Luther für sich keinen anderen Weg. Warum haben die angstauslösenden Vorstellungen von Gericht und Hölle über Luther solche Macht bekommen? Man kann nicht einfach eine zu strenge christliche Erziehung in der Familie dafür verantwortlich machen. Nach allem, was wir wissen, wurde Luther nicht viel anders erzogen als viele seiner Zeitgenossen. Wahrscheinlich haben einige Faktoren zusammengewirkt. Bei einer Reise nach Hause verletzte sich der Student Luther mit seinem Degen an der Schlagader seines Oberschenkels und geriet in Todesangst. Auch in der Folgezeit wird er mehrfach mit der Möglichkeit eines plötzlichen Todes konfrontiert. In den Jahren vor seinem Klostereintritt grassierte in Erfurt, der Stadt seines Studiums, die Pest. Mehrere bekannte Juristen fielen ihr zum Opfer. Auch in seiner Familie begegneten ihm Fälle plötzlichen Todesgeschicks. Schließlich geriet er auf dem Weg in seine Heimat bei Stotternheim in ein furchtbares Gewitter. In unmittelbarer Nähe schlug ein Blitz ein. Die unmittelbare Gefahr des Todes ließ ihn fragen: Was wird denn dann aus mir? Kann ich bestehen vor Gott? Als wäre dieser Schrecken eine Art letzte Warnung, gelobte Luther verzweifelt den Eintritt ins Kloster.
Luther erlebte dort zunächst ein Nachlassen seiner Ängste, aber nur für kurze Zeit. Schon seine erste Messe wurde zu einer traumatischen Erfahrung, weil er vor allen Gottesdienstbesuchern von Angst geschüttelt wird. Drastisch beschreibt er, wie sehr ihn Angst und Panik gequält haben: „Ich wurde gebadet und getauft in meiner Möncherei und hatte die rechte Schweißsucht, Gott sei gelobt, dass ich mich nicht zu Tode geschwitzt habe.“ An Beschwichtigungsversuche durch Beichtväter und Seelsorger hat es nicht gefehlt. Aber in der Panik versagen alle Argumente. Der Angst ist mit guten Gründen allein nicht beizukommen.
Angst vor Strafe
In wachsender Verzweiflung an seinen Bemühungen lernte Luther, dass Angst nicht durch eigenes Grübeln oder bloße Willenskraft überwindbar ist. Die bloße Möglichkeit eigenen Ungenügens vor Gott lässt stets Raum für die Angst vor göttlicher Strafe. Verdeutlichen konnte Luther dies am Sprichwort: „Wer sich vor der Hölle fürchtet, der kommt hinein.“ Ängste vor Gericht und Strafe gewinnen zunehmend die Herrschaft über das eigene Erleben. Die Angst vor einem bestimmten Zustand scheint diesen geradezu unvermeidbar zu machen. Je mehr man diese Erfahrung vermeiden will, desto schneller ergreift sie Besitz von einem. Darin bestand das „Schweiß- bzw. Angstbad“ gegeben, wie er seine Panik und Verzweiflung später beschrieb. Im Ringen mit den biblischen Texten entdeckt Luther nach und nach einen neuen Weg, mit Angst umzugehen. Zunächst findet er in den biblischen Psalmen Worte, seine eigene Angst vor Gott auszudrücken: „Ich schütte meine Klage vor ihm aus und zeige vor ihm an meine Not.“ (Ps 142,3) Meine Ängste trennen mich nicht von Gott. Ich kann sie wie viele Beter vor mir vor Gott aussprechen. Es gibt keine Überwindung der Angst, in der diese nicht zunächst einmal angenommen und ausgehalten wird. Nur so kann es gelingen, dass den Ängsten die Spitze abgebrochen und die lebensbeherrschende Macht genommen wird.
Getröstet
Sodann lernt Luther, die Trostworte der Bibel ganz persönlich für sich in Anspruch zu nehmen, sie als Zusage bedingungsloser Gnade zu lesen und zu glauben. Gegenüber den Bildern des Grauens hilft nichts, was Menschen tun, auch nichts, was die Kirche glaubt versprechen zu können. Zur echten Hilfe wurden ihm biblische Bilder, die im gekreuzigten Christus die gnädige Nähe Gottes für die Verlorenen vor Augen malten. In seiner Magnificatauslegung (1521) bringt Luther diesen Zusammenhang eindringlich zur Geltung: „In die Tiefe will niemand sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen von ab. Darum sieht Gott allein in die Tiefe, Not und Jammer und ist nah allen denen, die in der Tiefe sind. So hat er auch seinen einigen liebsten Sohn Christum selbst in die Tiefe allen Jammers geworfen und an ihm vortrefflich gezeigt sein Sehen, Werk, Hilfe, Rat und Willen, worauf er gerichtet ist.“
Keine Gedanken und keine Anstrengungen beseitigen die Angst, wohl aber die Erfahrung bedingungsloser Liebe. Im Vertrauen auf den Gekreuzigten erweist sich die menschliche Angst gleichermaßen als ertragbar wie überwindbar. Die geglaubte Gegenwart Gottes vermag der Abgründigkeit der Angsterfahrung ihren Stachel zu nehmen. Eigene Angst und Not verliert zwar nicht ihre Schwere, wohl aber ihre Aussichtslosigkeit. Im Bild des Gekreuzigten verdichtet sich die Einsicht, dass das Problem der Angst nicht nur das ihrer Beseitigung sein kann. Der Blick auf Christus ermöglicht es, Angst auszudrücken, anzunehmen und Gott ihre Überwindung zu überlassen: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33)