Ausgabe Dezember 2020 / Januar / Februar 2021 – Thomas Pichel

Einleitung

Wer hat recht? Was stimmt? Es gibt Christen, die behaupten, Covid-19 sei eine Strafe Gottes für die Gleichgültigkeit gegenüber Gott, für einen bestimmten Lebensstil. Es gibt Christen, die behaupten felsenfest, Covid-19 sei keine Strafe Gottes. Gott habe damit nichts zu tun.

Mich irritiert beides Mal die Selbstsicherheit. Ich frage die Menschenankläger: Woher wisst ihr das? – und die Gottesverteidiger: Können wir wirklich das, was in der Welt geschieht, von Gott lösen? Wenn Gott nichts mit Corona zu tun hätte, wäre die Welt ein gottloser Ort, wäre Gott nicht der allmächtige Herr, sondern ein ohnmächtiger Papiertiger. Dann stünde Gott für einen Kuscheltier-Trost. Helfen und erlösen könnte er uns nicht.

I. Ein kleiner Selbsttest: Was ist für mich Corona?

Ich zähle Stichworte auf. Sie können ankreuzen, ob Sie der Einschätzung voll zustimmen, überwiegend zustimmen, überwiegend nicht zustimmen oder überhaupt nicht zustimmen.

Anfechtung – Auszeit – Chance – Erziehungsmaßnahme – Gericht – Herausforderung – Krise – Läuterung – Leidenszeit – Prüfung – Rache – Segen – Schicksal – Spaltpilz – Strafe – Teuerung – Verstärker – Weckruf – Zäsur – Zeichen – Zeitenwende – Zerreißprobe – Zorn – Zufall – Zulassung.

II. Was sagt die Bibel?

1. Über Gott

Wie sehen wir das Verhältnis zwischen Gottes Liebe und Gottes Zorn? Unsere Antwort beeinflusst, wie wir über Gott und Corona denken. Es gibt zwei Optionen. Sind Liebe und Zorn, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Eigenschaften Gottes, die gleichrangig miteinander ringen? Oder gibt es eine Gewichtung? Gottes Wesen ist Liebe (1. Joh 4,16). Barmherzigkeit, Geduld, Güte, Treue und Gnade (2. Mo 34,6) sind Gottes Eigenschaften. Gottes Zorn ist sein punktuelles und phasenweises (Jes 54,8) Handeln gegen alles, womit wir uns und andere kaputtmachen, weil Gott kompromisslos alles Ungerechte verneint.

‚Sehen‘ wir die Verborgenheit Gottes (Jes 45,15; 1. Kö 8,12) in der Bibel? Verborgen heißt: Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich verstehe Gott nicht. Seine Führungen und Fügungen machen Angst, werfen Fragen auf, führen in Zweifel und Leiden.

‚Sehen‘ wir, dass die Bibel unter Allmacht Gottes Allwirksamkeit versteht? Es gibt kein Ereignis, das nicht etwas mit Gott zu tun hätte. D.h. Corona hat etwas mit Gott zu tun. Nur was und wie? Corona ist eine Gottes-Erfahrung, die uns verunsichert und erschreckt. „Wer an den lebendigen Gott der Bibel glaubt, findet ihn immer wieder auch fremd, irritierend, ja verstörend, der bekommt Fragen, der kennt Zweifel“ (Martin Schleske). „Gott ist unergründlicher, ja auch abgründiger, als wir es uns wünschen“ (Thorsten Dietz).

2. Über die Schöpfung

Die Schöpfung ist eine leidende. Sie seufzt und wartet auf ihre Erlösung. Siehe Rö 8,18-22! Corona zeigt, wie verwundbar und verwundet die Welt, das Leben und wir selbst sind. In der Schöpfung gibt es eine Spannung. Alles, was Gott gemacht hat, ist sehr gut (1. Mo 1,31). Und doch gibt es die Chaoswasser (1. Mo 1,2), d.h. destruktive Kräfte, die auftreten und alles Leben gefährden und zerstören können. Gott wirkt als Schöpfer bei der Erschaffung und bei der Erhaltung der Welt gegen diese lebensfeindlichen Kräfte. Wenn diese Sichtweise stimmt, müssen wir nicht alles Übel in der Schuld des Menschen verorten.

3. Über das Thema Strafe

Es gibt im Alten Testament Passagen, die Strafgesetzbuch- Paragrafen gleichen (2. Mo 21,24; 2. Mo 21,22; u.a.). Es gibt Erzählungen, in denen Unglück als Strafe Gottes gewertet wird (4. Mo 16,31; 2. Sam 6,7 u.a.). Es gibt Erzählungen, wo Israels Schicksal als Strafe gewertet wird (z.B. Babylonische Gefangenschaft)

Dennoch: Die Hauptbotschaft der Bibel in dieser Hinsicht ist das sog. Tun-Folge-Denken. Gott hat das Leben so eingerichtet, dass unsere Taten Folgen haben. Tat und Folge sind nicht zu trennen. Eine Tat wird durch ihre Folgen vollständig. Böses Tun bereitet sich seine eigene Konsequenz. Ein Handeln, das Gottes Maßstäben nicht entspricht, erweist sich in seinen Folgen als lebensfeindlich und beziehungsschädlich (Jer 2,17; Spr 14,34; 26,27; Jes 59,4). Darin liegt unsere Verantwortung. Strafe ist in diesem Denkansatz weniger oder kein Bestraftwerden, sondern eine Selbstbestrafung, eine Ernte, die ich mir selbst einbringe (z.B. Hos 8,7).

Gott hält dieses Tat-Folge-System in der Hand. Aber wir durchschauen seine Systemsteuerung nicht: Er hält wohl sehr oft verschonend seine Hand zwischen uns und unseren Tatfolgen. Er kann wohl in seinem Zorn Folgen unseres Tuns ungehindert auf uns zurückfallen lassen. Böse triumphieren. Gerechte leiden (Ps 73).

Wer über Strafe in der Bibel nachdenkt, darf es nicht ohne Hiob tun. Das Schicksal Hiobs lehrt uns, dass ein leidender Mensch unschuldig sein kann, dass wir das Tat-Folge-Denken „nicht auf alle möglichen Fälle beziehen“ dürfen. „Das ist die zentrale Botschaft des Buches Hiob. Es ist die Theologie der Freunde Hiobs, jedes Leid zu verrechnen mit einem nachvollziehbaren Grund. Hiob lehnt sich dagegen auf bis zur Lästerung. Und Gott gibt ihm recht. Es gibt Übel, deren Sinn uns verborgen bleibt.“ (Thorsten Dietz, Gott suchen in der Krise, S.73).

4. Über Jesus Christus

Jesu Worte bestätigen in Luk 13,1-5 und Joh 9,1-3 das Hiob-Buch. Jesus macht die Schuldu. Sündenbock-Suche nicht mit. Er untersagt es uns, einen konkreten Zusammenhang zwischen der Schuld eines Menschen und einem Unglück, das ihn trifft, herzustellen.

Am Leben Jesu sehen wir: Jesus nimmt sich der realen Nöte der Menschen an und leidet ihre Leiden mit.

Am Sterben Jesu sehen wir die Gewaltlosigkeit und die Feindesliebe Gottes. Wir hören, dass Jesus „die Strafe“ (Jes 53,4-5), d.h. die Folgen unserer Sünde auf sich nimmt. Wir sehen am Kreuz, wie weit Gottes Liebe zu gehen bereit ist. Wir sehen einen Gott, der an und für uns zu leiden bereit ist, der keine Opfer produziert, sondern sich opfert.

5. Über das Jüngste Gericht

Das Wiederkommen Jesu und das Gericht Gottes werden alles Leiden beenden und alles Böse vernichten. Dann wird das „Meer“ (Offb 21,1), d.h. die destruktiven Chaoskräfte nicht mehr sein.

Aus dem Drehbuch der Weltgeschichte wissen wir: Bis zu dieser Vollendung kommt es zu notvollen Ereignissen, die aber dazu führen, dass das ‚Baby‘ (= die neue Erde und der neue Himmel) auf die Welt kommt. Es kommt zu Wehen, d.h. zu typischen, sich wiederholenden, schmerzhaften Ereignissen (Mt 24,8), und es kommt zu Plagen (Offb 9,18.20 u.a.), d.h. zu leidvollen Geschehnissen (2. Mo 7-12), die sich gegen die ‚Pharaos‘ der jeweiligen Zeit richten und die dem Ziel dienen, gefangene Menschen zu befreien (2. Mo 13-15).

Durch 1. Petr 4,17 wissen wir, dass es zu innergeschichtlichen ‚Gerichten‘ kommen wird. Das Richten Gottes hat eine kritische Seite für uns: Ich werde mit mir selbst und meiner Geschichte konfrontiert. Das Richten Gottes hat eine konstruktive Seite: Gottes Richten zielt auf die Überwindung unguter und die Herstellung guter Verhältnisse.

III. Ist Corona ein Strafen Gottes?

Meine Position dazu: Das weiß keiner. Das kann auch keiner wissen. Dazu bräuchten wir Insider- Wissen. Jetzt kann man einwenden: Wenn du es nicht weißt, kannst du es auch nicht ausschließen! Meine Antwort: Das stimmt. Aber wie wahrscheinlich und berechtigt ist diese Möglichkeit?

Hier meine Fragen zu Corona als Strafe Gottes:

(1) Dürfen wir Gerichtsworte an Israel z.B. auf Deutschland übertragen? Es ist nicht Israel und steht nicht im Alten Bund. (2) Sprechen Jesu Worte in Joh 9 und Luk 13, Jesu Leben und Jesu Sterben nicht dagegen? (3) Arbeitet Gott mit der Peitsche, um uns „zur Buße zu leiten“ (Rö 2,4)? (4) Kann die Sünde mit Macht überwunden werden? (5) Viel zu viele Kinder und Erwachsene auf dieser Welt sterben täglich an Hunger, Mangelernährung und tödlichen Krankheiten oder werden Opfer von Krieg und Gewalt. Ist dieses Leiden und Sterben eine Strafe?

IV. Wie ich Corona sehe

  1. Corona ist eine Herausforderung: mental, existentiell, wirtschaftlich, finanziell, gesellschaftlich, global. Für die einen ist Corona ein Mittelgebirge, durch das sie leicht hindurchkommen. Für andere ist Covid-19 der Himalaya. Es wird ihnen alles abverlangt. Vielen sogar das Leben.
    Corona ist eine Zeit der Gefahr, dass Beziehungen leise eingehen, dass wir uns verlieren.
    Corona ist eine Anfechtung und Leidenszeit. Ich brauche keine Beispiele aufzählen.
  2. Corona ist eine Zulassung Gottes. Es hilft mir, von Gottes Zulassungen zu sprechen. Das ist m.E. sicheres Glaubenswissen. Es gibt nichts ohne Gott, nichts neben ihm, nichts über ihm. Es gibt nichts, was Gott nicht zuließe, ob ich es begreife oder nicht.

  3. Corona ist ein Ans-Lichtbringer und Verstärker. Corona deckt auf, was uns am wichtigsten ist (unsere Freiheiten und Lebensumstände!?). Corona macht jeden zu einer verstärkten Ausgabe seiner selbst. Ängstliche werden ängstlicher, Rücksichtslose rücksichtsloser, Rücksichtsvolle rücksichtsvoller.

    Corona wirkt wie ein Brandbeschleuniger von Kräften (Angst und Hass, Populismus, Nationalismus und Rassismus…), die in unserer Gesellschaft schon vorher da waren. Corona wirkt wie ein Spaltpilz. Risse werden Gräben; Gräben tiefer und breiter.

  4. Corona ist ein Reden Gottes. C.S. Lewis sagt: „Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen; in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind sein Megafon, eine taube Welt aufzuwecken.“

    Die Frage ist zuerst und immer neu, was Gott mir sagt. Ich sehe und verstehe mich heute besser.
    Beispiel 1: Ich will alles verstehen. Ich muss lernen, mit Uneindeutigkeiten zu leben, weil Corona so mehrdeutig und vielschichtig ist.
    Beispiel 2: Ich bin ein Sicherheits-Junkie. Ich liebe das Gefühl, möglichst viel im Griff und unter Kontrolle zu haben. Ich muss lernen, mit Unsicherheiten zu leben, weil Corona ein Unsicherheitsverbreiter ist.
    Beispiel 3: Auch ich liebe meine Freiheiten. Dorthin reisen zu können. Das und jenes machen zu können. Ich muss lernen, mit Einschränkungen zu leben, weil Corona lehrt, wie unverfügbar unser Leben ist.

    Corona ist ein Stoppschild. Damit wir die Erde nicht in den Abgrund reißen. „Unser Umgang mit Menschen, Tieren und der ganzen Schöpfung hat viele Grenzen überschritten… Wie sollte Gott da nicht eingreifen? Wie sollte Gott schweigen? Er ist immer schon derjenige, der seine Welt zurechtbringt und der sie schließlich erneuern wird? (Ulrike Bittner, Gott suchen in der Krise, S.55)

  5. Ich tendiere dazu, Corona als eine „Wehe“ zu sehen, die wir ertragen müssen, die aber Gottes Zielen dienen muss.

    Ich frage, ob Corona eine „Plage“ sein könnte, die Gott benutzt, um gegen das Pharaonenhafte unserer Zeit vorzugehen. Das Problem dabei: Unschuldige und die Schwächsten und Ärmsten sind wieder besonders hart betroffen.

  6. Ich sehe Corona als Chance. Wir können innehalten und uns besinnen. Wir können Dinge neu bewerten und Neues beginnen.
    Corona hat mir manches Positive geschenkt. Weniger Termine, mehr Zeit! Mehr Gespräche! Die Wertschätzung von Beziehungen. Das Kennenlernen der schönen Kulmbacher Umgebung.

  7. Wir alle benötigen ein ‚Zuhause‘, in dem unser Nichtverstehen und unser Leiden aufgehoben sind. Ich nehme bewusst Zuflucht zu der Stelle, an der Gott uns sein Herz zeigt. Dieser ‚Ort‘ ist das Kreuz Jesu und der Ostermorgen. Gottes Handeln in der Welt ist und bleibt mehrdeutig. Jesu Tod und Auferstehung zeigen eindeutig, was Gott für uns empfindet und was er zu tun imstande ist. Das ist der tragende Grund meines Lebens. Das ist mein Halt.

V. Corona und unsere Gemeindearbeit

Corona bringt auch bei uns ans Licht, was vorher schon da war. Corona verstärkt die Herausforderungen, vor denen wir stehen, weil dieses Virus „die Bühne tiefgreifend umbaut, auf der wir auftreten und spielen“ (Tomas Halik).

Halik fragt, ob die geschlossenen Gebäude im Lockdown zu Beginn der Corona-Zeit nicht ein Reden Gottes für alle Kirchen seien. „Vielleicht zeigt diese Zeit der leeren Kirchen den Kirchen symbolisch ihre verborgene Leere und eine mögliche Zukunft, die eintreten könnte, wenn die Kirchen nicht ernsthaft versuchen, der Welt eine ganz andere Gestalt des Christentums zu präsentieren. Zu sehr waren wir darauf bedacht, dass die ‚Welt‘ (die anderen) umkehren müsste, als dass wir an unsere eigene Umkehr‘ gedacht hätten.“ (Zeit Online vom 1.4.2020)

Ein Christ, der ein Amt antreten musste, machte ein Beispiel, wie diese Umkehr aussehen kann. Er sagte, der Auferstandene stehe an der Gemeindetür, klopfe an (Offb 3,20) und sage: Ich will hier raus! Zu den Menschen! Folgen wir ihm!

Gespräch im Gemeinschaftsrat Ansbach:

Zeit der Gefahr

Die Gemeinde gleicht einer Kette. Die Mitglieder und Freunde gleichen den Gliedern. Vor Corona hat sich diese „Kette“ ineinander verschlungen und an vielen Stellen berührt. Aber in dieser Krise wird diese Kette langgezogen und die Gefahr ist, dass sie am schwächsten Glied reißt. Denn wenn man sich nicht mehr trifft, entfremdet man sich, missversteht sich und lebt sich auseinander. Und unsere große Aufgabe und Frage ist: Was können wir tun, damit unsere Gemeindekette nicht gesprengt wird?

Karin Broska, Puschendorf:

Kostbare Beziehungen

Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Nicht umsonst sagt Gott: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ – Endlich darf ich wieder ins Mutterhaus und ins Schwesternwohnhaus. Meine liebe, demente Schwester sagt mir beim Veehharfenspiel – plötzlich, und ohne Zusammenhang: „Ich wollte, dass das aufhört. Ich wollte, dass das einfach abgeschnitten wird!“ Als ich verwirrt nachfrage, was sie meine: „Dass wir keinen Besuch bekommen dürfen; dass wir nicht raus dürfen – ich will das nicht!“ Selbst in ihrer Verwirrtheit kann sie genau artikulieren, was für sie das Schlimmste war.

Karin Broska, Puschendorf:

Jesus als Ort der Zuflucht

Wo ist Gott in der Corona-Krise?
Da, wo er immer ist – ganz nah bei uns!