Ausgabe März / April / Mai 2023 Martin Drogat, Coach und Systematischer Therapeut, Marburg (www.martindrogat.de) 

Ich sehe dich. Du siehst mich. Ich sehe, dass du mich siehst. Deine Augen sehen in meine. Du siehst in mich hinein. Ich sehe mich in dir. Wenn ich traurig bin, siehst du auch traurig aus. Und tröstend. Beides. Wie schaffst du das? Dann fühle ich mich sicher. Gehalten. Wahrgenommen. Wenn ich Hunger habe, kommst du und siehst mich an. Nimmst mich auf deinen Arm, wir gehen in die Küche und machen Brei. Lecker! Wenn ich lache, lachst du mit. Weine ich, sehe ich mein Gefühl in deinem Gesicht. Ich spüre, dass du mich spürst. Ich höre, dass du mich hörst. Ich sehe, dass du mich siehst. Mein Gefühl ist unser Gefühl. Mein Schmerz ist unser Schmerz. Mein Lachen ist unser Lachen. Dann weiß ich: Ich bin nicht allein.

Ich spiele Verstecken: Du siehst mich, du siehst mich nicht. Ich halte das ein bisschen aus. Dann schaue ich schnell um die Ecke – und du bist noch da, und wir lachen, weil wir uns sehen. Manchmal versteckst du dich. Das ist aufregend, aber dann bist du wieder da, und ich lache und bin erleichtert. Es tut gut, dass immer jemand da ist. Es tut gut, dass du mich hörst, wenn ich dich brauche. 

Natürlich hat meine Enkelin Nora diesen Text nicht selbst geschrieben. Sie ist ja auch erst acht Monate alt. Aber die Worte spiegeln meine Gedanken, wenn ich sie mit ihrer Mama sehe. Du siehst mich. Du hörst mich. Du spürst mich. Ich darf sein, weil du da bist. Eine menschliche Grunderfahrung, so wichtig wie Milch und Brei und die Luft zum Atmen. In „Ich und Du“ schrieb der Religionsphilosoph Martin Buber darüber: „Der Mensch wird am Du zum Ich“. Und in der Begegnung zwischen Mutter und Kind können wir diese „Ichwerdung“ live beobachten. Wir wissen heute, wie wichtig dieses Hinsehen, Spüren und Spiegeln ist: „Attachment“, die Bindung zwischen dem Kleinkind und fürsorglichen, liebevollen Erwachsenen ist Basis gesunder seelischer Entwicklung. Die Nazis propagierten, man solle Kinder schreien lassen, sie müssten lernen, sich selbst zu beruhigen – heute wissen wir, dass Liebe, Schutz und Bindung Kinder stark und gütig macht. 

Ein paar Fachbegriffe dazu: Was die Mutter hier tut, ist „Attunement“ – hinsehen, hineinspüren, sanft spiegeln – und dabei darf jedes(!) Gefühl sein. Das Kind fühlt sich wahrgenommen und verstanden. Attunement dient der „Koregulation“. Das Kleinkind ist von eigenen Gefühlen oft überwältigt, braucht eine Bindungsperson, die Sicherheit gibt und zeigt: Gefühle sind okay. Langsam wird aus Koregulation dann Selbstregulation – wichtig für emotionale Intelligenz und seelische Gesundheit. 

Martin Buber, der diese tiefen Erfahrungen von Sehen und Gesehenwerden, Spüren und Gespürtwerden als „Begegnung“ bezeichnete, war der Überzeugung, dass dies auch die Essenz der Beziehung zwischen Mensch und Gott ausmacht: Hagars „El Roï“, der Gott, der hinsieht (Gen.16,13), ist kein Überwachungsgott, sondern sieht mit den Augen einer Mutter. Er sieht. Er hört. Er spürt. Er liebt. 

Gott sieht nicht schwarz-weiß 

Hagar sieht und wird gesehen – „Gewiss hab‘ ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat“. Gott kommt ihr ganz nah. Sieht die versklavte junge Frau, entwurzelt, einem alten Mann als Zweitfrau „gegeben“ – gefragt wurde sie wohl nicht. Leihmutter sollte sie sein, ihr Kind nicht als ihr eigenes gelten. Ein verzweifeltes Leben, in dem sie Opfer der damaligen Gebräuche wird – und des Verhaltens der mächtigen, reichen Frommen ihrer Zeit. Sie zahlt es Sarai heim mit Spott über deren Kinderlosigkeit und zeigt, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täterin sein kann. 

Und Gott? Wendet sich ihr zu. Der Verletzten. Der Verletzenden. Gibt ihr Trost und Bindung wie eine Mutter. Gibt ihr aber auch Würde, Hoffnung und Verheißung: Du wirst Stammmutter eines großen Volkes. Wie er sich auch der gelegentlich biestigen Sarai zuwendet, und auch Abram, dem ungläubigen Gläubigen, der es mit der Wahrheit oft nicht so genau nahm. Der Sklaven besaß – damals legal, aus heutiger Sicht kaum legitim. El Roï – Gott sieht nicht nur Sarais Sohn Isaak, Stammvater Israels, sondern auch Hagars Sohn Ismael, später Stammvater der arabischen Völker. 

Die Liste erstaunlicher „Gottgeliebter“ ließe sich verlängern. Der Trickser Jakob würde darin vorkommen und sein wilder Bruder Esau. Mose, mit Totschlag im Vorstrafenregister, David mit einem Mord; Rahab, Petrus, Paulus und der Verbrecher am Kreuz – Gott sieht sie, und lässt sich in Jesus ansehen. 

Und wir? Wenn Gottes Engel uns am Brunnen in der Wüste fragte: Wo kommt ihr her? Wo geht ihr hin? Was sagen wir? Dass wir mit Fortschrittsglauben und Gier gerade die Erde zerstören? Dass wir aus der fröhlichen Gottesbeziehung eine oft starre Tradition gemacht haben? Wie schwer es uns fällt, den „Nächsten“ zu lieben, wenn er anders denkt, fühlt, glaubt, lebt? 

Was auch immer wir zu erzählen hätten: Gott sieht uns an. Und wir können sagen: El Roï. Du, Gott, der hinsieht. Voll Liebe. Ich höre, dass du mich hörst. Ich spüre, dass du mich spürst. Wir sind unperfekt, aber vollkommen geliebt, geborgen in deiner Gegenwart.