Ausgabe Dezember 2019 Januar / Februar 2020 – Kornelia Schelter, Ansbach-Bernhardswinden
„Wer bin ich?“ – diese Frage ist nicht mit überstandener Pubertät ein für alle Mal beantwortet. Diese Frage stellt sich uns immer wieder neu. Auch der Beter des 139. Psalms ringt mit ihr und geht damit ins Gebet, in die ehrliche Zwiesprache mit Gott. Mit seinen Fragen wendet er sich an das vertraute „Du“: Wer bin ich? Wo komm ich her? Wo gehöre ich hin?
Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph, der den bekannten Satz prägte: „Am DU werden wir erst zum ICH“, setzt an den Anfang seiner Übersetzung von Psalm 139 dieses große „DU“. „DU, du erforschest mich und kennest mich“. Am DU Gottes entdecke ich, wer ich bin. Schaue ich darauf, wer dieses DU ist und was es mit meinem Leben zu tun hat, finde ich eine Antwort darauf, wer ich bin. Und genau das tut der Psalmist. Drei Entdeckungen macht er über Gott und sich selbst.
1. Ich bin von Gott umgeben (V1-12)
Im ersten Teil wird dem Beter bewusst: Ich lebe im Angesicht Gottes – ob ich das will oder nicht. Gott ist mein Gegenüber. Was ich auch tue oder lasse, Gott sieht es. Wohin ich auch gehe, er bekommt es mit. Nichts bleibt ihm verborgen, noch nicht einmal meine Gedanken. Ich kann mich Gott nicht entziehen – er ist allgegenwärtig.
Das kann richtig beklemmend sein, wenn ich lieber meine eigenen Wege gehen will. Adam und Eva versuchen nach dem Sündenfall Gottes Blicken zu entkommen. Aber Gott findet sie auch in ihrem vermeintlichen Versteck. Als der Prophet Jona von Gottes Auftrag weg in die entgegengesetzte Richtung flieht, erlebt er: „Auch in meiner Flucht bin ich von Gott gesehen. Ich kann machen, was ich will – diesem DU entkomme ich nicht. Früher oder später muss ich mich ihm stellen.“
Auf der anderen Seite ist die Allgegenwart Gottes aber auch sehr tröstlich. Der neue Wohnort, die neue Arbeitsstelle, die Reha nach der OP – DU bist schon da! Wenn ich gerade in einem dunklen Loch sitze und nicht weiß, wie ich da jemals wieder rauskommen soll: DU bist da! Wo ich auch bin, ich bin gesehen von Gott. Ich bin aufgehoben in ihm. Wer bin ich? Ein Mensch – hin und hergerissen. Mal hin zu Gott, mal weg von Gott. Aber eins ist sicher: umgeben von Gott. Dieses kleine ICH ist das Gegenüber des großen DU. Auch für mich ist „diese Erkenntnis zu wunderbar und zu hoch“.
2. Ich bin von Gott gewollt (V13-18)
Dann wirft der Beter einen Blick zurück. „Wie bin ich geworden? Wo komm ich eigentlich her?“ Viele Menschen tun sich schwer mit ihrem Leben, weil sie ihre Eltern nicht kennen oder sich nicht von ihnen geliebt fühlen. Viele leben ein Leben lang mit dem Grundgefühl: „Es ist egal, wie es mir geht. Ich bin eh niemandem wichtig.“
Was dagegen macht es mit einem Menschen, wenn er weiß: Ich bin von Anfang an gesehen und gewollt. Nicht die Natur, nicht der Zufall, sondern DU hast mich gemacht. Als noch kein „Hahn nach mir krähte“, hattest DU schon deinen Entwurf für mich im Kopf. Und mit Hingabe hast du dich daran gemacht, mich zu gestalten: meine Organe und Gliedmaßen, mein Wesen und meine Persönlichkeit. Alles hattest du schon in mir angelegt: meine Körpermaße, meine Fähigkeiten, meine Stärken genauso wie meine Schwächen. Ich sollte ICH sein, nicht zu verwechseln mit den anderen Menschen neben mir. Ja, Gott, es ist dir gelungen. Manchmal beschwere ich mich zwar, dass ich nicht so bin wie andere oder andere nicht so sind wie ich. Aber all das erinnert mich nur wieder daran: Ich bin ICH – ein Original. Und handgefertigte Originale sind kostbar – erst recht die aus Gottes Hand.
Und so wie Gott mich schon entworfen hat, bevor jemand an mich dachte, so hat er mein ganzes Leben im Blick. „Und alle Tage waren in dein Buch geschrieben“. Gott kennt meine Tage, bevor ich sie erlebe. Klar, ich kann mich auch dagegen wehren, es als Vorherbestimmung und Manipulation sehen. Aber ist es nicht sogar tröstlich zu wissen: In Gottes Tagebuch stehen alle Tage meines Lebens? Wenn ICH heute noch nicht weiß, wie das morgige Gespräch mit meinem Vorgesetzten ausgeht – DU hast es im Blick. Wenn ICH heute unsicher bin, wie ich mich morgen entscheiden soll, DU hast es im Blick. Meine Tage stehen in deinem Tagebuch, weil DU sie gemeinsam mit mir durchleben und durchleiden wirst.
3. Ich bin auf Gottes Seite (V19-22)
Manchmal helfen uns die angefochtenen Zeiten mehr als andere Zeiten, um herauszufinden, wer wir sind und wo wir hingehören. Hier, im dritten Teil des Psalms setzt sich der Beter mit Menschen auseinander, die Gott gegenüber feindlich gesinnt sind (V20) und die wohl auch dem Beter selbst zu schaffen machen (V19). Dadurch wird der Beter herausgefordert, Stellung zu beziehen. Wohin gehöre ich? Stell ich mich zu Gott und muss mit Widerstand von den Gottlosen rechnen? Oder passe ich mich den Ungläubigen an und nehme die Distanz zu Gott in Kauf? Ganz egal wie sich die Gottlosigkeit äußert – mit Belächeln oder mit Blutvergießen- ich bin gefragt: Auf welche Seite stelle ich mich? Der Psalmist geht nicht den „soften“ Weg der Anpassung an den „Mainstream“. Er stellt sich eindeutig auf Gottes Seite.
Für uns neutestamtliche Gläubige hört sich das befremdlich an (V21f). Nein, es geht hier nicht darum ungläubige Menschen zu hassen oder gar umzubringen. Es geht vielmehr darum, sich zu fragen: Wer oder was zieht mich von Gott weg? Welche Bindungen, welche Denkweisen schaden meiner Beziehung zu Gott? Alles, was uns abhält Jesus nachzufolgen, sollen wir hassen, d.h. uns davon distanzieren. Wir täuschen uns, wenn wir glauben, es mache unserer Gottesbeziehung nichts aus, wenn wir uns den Ungläubigen anpassen. Auf welcher Seite möchte ich stehen?
Zum Schluss (V23f) bittet der Psalmist Gott ehrlich um Feedback. Er ist bereit, sein Leben unter Gottes Führung zu leben: „Ich weiß, HERR, DU leitest mich auf gutem, ewigen Weg. Ich vertraue dir.“