Blickpunkt März / April / Mai 2025  – Walter Ittner

Persönliche Gedanken und Einladung zur Diskussion über einen Impuls von Jens Stangenberg, Bremen

Seit nunmehr 100 Jahren sind wir an zahlreichen Orten präsent. In den letzten Jahrzehnten weniger in der Fläche “hin und her in den Häusern”, sondern verstärkt an unseren Hauptstandorten in oft sehr ansehnlichen Gemeinschaftshäusern. Doch was bedeutet es, dass wir „Gemeinschaft auf dem Weg“ sind, insbesondere in einer Zeit, in der Menschen weniger als früher bereit sind, sich festzulegen? Jens Stangenberg, ein bekannter Pastor, Podcaster und Autor aus Bremen, hat in den letzten Jahren das Konzept der „fluiden Kirche“ geprägt (www.jensstangenberg.de).

Leider konnte er aus zeitlichen Gründen keinen Artikel für unseren Blickpunkt verfassen, doch er hat uns die Erlaubnis erteilt, einige seiner Thesen und Gedanken zu veröffentlichen. Diese habe ich stark gekürzt aus dem Artikel „Kirche im Fluss“ aus der Zeitschrift “Ökumenische Akzente” aus dem Jahr 2023 entnommen und mit meinen eige- nen Beobachtungen ergänzt. Ich lade Sie herzlich ein, mit mir darüber ins Gespräch zu kommen. Bitte senden Sie Ihre Gedanken dazu an walter. [email protected]. Über einige ausgewählte Rückmel- dungen werde ich dann im nächsten Blickpunkt berichten. Hier folgt eine stark verkürzte Zusammenfassung seiner wichtigsten Aussagen:

Bereits seit vielen Jahren befinden sich Kirchen in grundlegenden Umbruchsprozessen. In letzter Zeit haben sich diese dramatisch beschleunigt. Mit dem Begriff „Fluide Kirche“ wird versucht, solche Wandlungen nicht nur als Bedrohung wahrzunehmen, sondern auch die damit verbundenen Chancen in den Blick zu bekommen.

Statistisch ist weithin bekannt, dass die Mitgliederzahlen und der Gottesdienstbesuch mehrheitlich sinken. Damit einher geht die abnehmende Plausibilitätsstruktur des christlichen Glaubens. Lebenswelten vieler Menschen flexibilisieren sich und die dauerhafte Bindung zur institutionalisierten Form von Religion wird immer weniger als relevant empfunden. Die Gefahr, dass darüber hinaus aus einer Verflüssigung eine Verflüchtigung wird, ist real.

Die Tendenzen zur Verflüssigung werden durch mehrere Faktoren beschleunigt. Zum einen hat die Corona-Pandemie fraglich gemacht, ob ein Verständnis von Kirche als Gebäude mit sonntäglichen Programmveranstaltungen wirklich zukunftsweisend ist. Darüber hinaus wird durch die digitalen Möglichkeiten immer offensichtlicher, dass Menschen auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Sie müssen sich dafür nicht an einem bestimmten lokalen Ort zu einer bestimmten Zeit treffen.

Bereits vor über 20 Jahren sprach der englische Theologe Pete Ward von einer „Liquid Church“. Seiner Meinung nach sollten wir uns von einem Kirchenverständnis als einer Versammlung von Menschen, die sich an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit treffen, lösen, um Kirche vielmehr als eine dynamische Verflechtung von Beziehungen und Kommunikation zu verstehen. Formale Mitgliedschaft verliere an Bedeutung. Stattdessen gehe es um Beteiligung und Engagement.

Damit wir uns nicht nur als Opfer von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen empfinden, braucht es eine andere Perspektive. Vieles was unter dem Begriff Fluide Kirche beschrieben wird, findet sich bereits in den biblischen Schriften: Gottes Volk auf der Wanderschaft, der mitgehende Gott, die klei- nen Gemeinschaften „hin- und her in den Häusern“ (Apostelgeschichte 2,46), apostolische Netzwerke und das Glaubensleben als Nachfolge Christi.

Folgende Faktoren könnten wieder stärker in den Blick genommen werden:

  • Kleine vernetzte christliche Gemeinschaften sind der Herzschlag des gemeinschaftlichen Lebens. Gerade im Kleinen geht es um Vertrauen, Offenheit und den Einsatz von Begabungen. Alle institutionalisierten Großstrukturen haben idealerweise nur eine unterstützende Funktion.
  • Christsein ist kein formaler Status, sondern ein geistlicher Lernweg. Der Fokus liegt darauf, Christus ähnlicher zu werden. Es ist ein dynamischer Prozess, der das ganze Leben anhält. Jeder/jede ist hineingerufen in diesen Weg und kann andere dabei fördern.
  • Gottesdienstliche Versammlungen haben die Aufgabe, möglichst alle zu beteiligen und den Leib des Christus öffentlicher zu verkörpern. Religiöse Angebote für konsumorientierte Zuschauer:innen sind weit entfernt von lebendigen Gemeinschaften.
  • Je dynamischer Kirche gedacht wird, desto weniger geht es um theologische Standpunkte. Der Hang zu dogmatischen Setzungen verstellt den Blick für eine multiperspektivische Weisheit. Weisheit hält Paradoxien aus, mehr noch: Eine weisheitliche Weltsicht ist davon geprägt, dass sich vieles sprachlich nicht eindeutig „auf den Punkt“ bringen lässt. Das hilft, umsichtiger mit- einander umzugehen und fördert eine achtsame Atmosphäre.
  • Eine neue Spiritualität wird alltagsintegrierter sein, oder sie wird nicht mehr sein. Es braucht personalisierte Formen des Glaubens, präsent in wöchentlichen Rhythmen, elementarer in der Praxis und heilsamer für die täglichen Anforderungen in angespannten Zeiten.

Ich wäre erfreut über zahlreiche Zuschriften und Diskussions- beiträge zu den folgenden drei Bereichen:

Was denken Sie über seine Beobachtungen? Wo stimmen Sie überein? Wo möchten Sie widersprechen?

  • Ich finde viele seiner Aussagen bemerkenswert, auch wenn ich anderen nicht zustimmen kann (zum Beispiel ist der Bezug auf theologische Standpunkte für mich weiterhin wesentlich und die Frage, wie die Bibel Gottes Wahrheit, seine Maßstäbe und Werte für unser Leben deutet, entscheidender als meine persönliche und subjektive Meinung).
  • Bei anderen Punkten hingegen trifft er genau ins Schwarze. Seit Corona ist vieles nicht mehr so, wie es einmal war. Viele Christen sagen mir: „Eigentlich komme ich auch gut ohne Gottes- dienst und feste Gemeinde aus. Jeden Sonntag suche ich mir das aus, was mir am besten gefällt, sei es online oder direkt vor Ort.“ Auch der Vergleich mit anderen Gemeinden hat zu- genommen: Wie oft werden großartige Angebote aus dem Internet als Maßstab genommen, und der beeindruckende Lobpreis oder die pa- ckende Predigt, die man anderswo erlebt, werden mit der häufig eher bescheidenen Form vor Ort verglichen.

Wie soll der Gottesdienst der Zukunft aussehen? Bedarf es besserer und perfekterer Programme? Oder tatsächlich mehr Möglichkeiten für alle, sich zu beteiligen?

  •  Ich erlebe beides: Das Verlangen nach einem mitreißenden Gottesdienst, in dem mir vorne etwas „Großartiges“ geboten wird oder als “Zwillingswunsch” (gleiches Anliegen nur in eine andere Richtung) eine tiefgehende Predigt eines Verkündigers, der mir die Bibel mit einer besonderen Lehrgabe erschließt und lebendig macht.
  • Wie wichtig ist die Frage nach der Beteiligung aller im Gottesdienst? Wird das nicht zu viel? Wird es dann nicht oberflächlich? In Ansbach experimentieren wir regelmäßig mit Formen wie unserem „Baustellengottesdienst“, wo verschiedene Formen der Beteiligung möglich sind, einige vorher geplant, andere spontan. Viele Besucher mögen das – aber es gibt auch andere, die bei solch einem Termin lieber woanders hingehen.

Wie leben und gestalten wir lebendige Kleingruppen?

  • Wie werden Kleingruppen zu Orten, in de- nen Menschen geistlich wachsen können und „Jesus ähnlicher“ werden? Seine Idee, dass das geistliche Leben „alltagsintegrierter“ werden muss, ist spannend und wichtig – aber wie wird das konkret umgesetzt? Auch in Kleingruppen und Hauskreisen kann man sich nur um sich selbst drehen und im “eigenen Saft” schmoren.
  • Dass er das nicht möchte, wird daran deutlich, weil er in seiner letzten Gemeindearbeit in Bremen die „Zellgruppenarbeit“ propagiert hat (was zum Beispiel die Rothenburger LKG mit ihren Lebensgruppen ausprobiert). Dadurch fühle ich mich herausgefordert, frage mich jedoch auch, wie es gelingt, dass unsere Kleingruppen Heimat werden bzw. bleiben für die, die schon länger dabei sind und gleichzeitig einladend werden für Menschen von außen.

Also – eine Antwort ist garantiert: Wenn sich viele von Ihnen auf so eine Diskussionsrunde einlassen, werde ich eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen im nächsten „Blickpunkt“ geben.