Blickpunkt Juni / Juli / August 2024 – Tobias Wagner, Würzburg

Francke ist freudig überrascht, als er eines Tages in einer Spendenbüchse 7 Gulden findet. Dieser Betrag, der heute ein paar hundert Euro wert wäre, ist für ihn das Startzeichen von Gott, um eine Armenschule in seinem Pfarrdorf, Glaucha, bei Halle, zu gründen. Was Francke noch nicht ahnte, es ist zugleich der Beginn zum erstaunlichen Bau des ersten und über 200 Jahre lang größten Missionswerks des Protestantismus.

Heute denken wir viel über Neugründungen und Neubelebungen nach. Wir gehen dabei sehr planvoll und strategisch vor. Das ist auch richtig, vor allem mit begrenzten Mitteln.

In der Aufbruchszeit des Pietismus aber, einer der Wurzeln unserer heutigen Gemeinschaftsarbeit, entstanden in Halle viele Werke ungeplant als riesiges Glaubenswagnis. August Hermann Francke sah die sozialen und geistlichen Nöte der Menschen um ihn herum und versuchte, mit dem rettenden Evangelium und tätiger Nächstenliebe zu helfen. Dabei wurde sein Vertrauen in Gott immer größer und seine Vision beinhaltete erst Halle, dann Preußen und am Ende die ganze Welt! Das bauliche Zeugnis seines Glaubensmuts kann man noch heute in Halle /Saale besuchen. Es sind die „Franckeschen Stiftungen“. Zur Zeit Franckes lebten dort bis zu 2500 Schüler, Studenten, Lehrer, Waisenkinder und Werksangehörige. Sie waren ein Waisenhaus, eine Schul- und Lehrstadt, ein Missionszentrum, und gleichzeitig befand sich dort die erste Poliklinik Europas, die damals berühmteste Apotheke Preußens oder die erste evangelische Bibelgesellschaft.

Der Schlüssel zu diesem außergewöhnlichen Glaubensmut, zu dem grenzenlosen Vertrauen Franckes in die Fürsorge Gottes und dem unbedingten Willen, sich ganz für Gottes Sache einzubringen, liegt in der Bekehrung Franckes. Bekehrung war damals in der Kirche kein Thema. Es war die Zeit der sogenannten lutherischen Orthodoxie, als es nur um die rechte lutherische Lehre ging. Wenn man getauft war und sich dann zur lutherischen Lehre hielt, war das genug. Von dem frohen Glaubenszeugnis Martin Luthers, dass Christus allein alles getan hat, und wir nun frei in Christus sind, war nicht mehr viel zu spüren. Es war eine gesetzliche, erkaltete Kirche geworden. Der Glaube war nur noch im Kopf, aber nicht mehr im Herz. Das persönliche Glaubensleben der Christen war unwichtig. Immer wieder traten in den Jahrzehnten nach Luther Leute auf, die auch Wert darauf legten, dass sich der Glaube im persönlichen Leben ausdrücken müsse. Ihre Bücher fanden weite Verbreitung, wie z.B. Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum“, doch sie konnten die lutherische Kirche nicht nachhaltig beeinflussen.

A. H. Francke (1663-1727) kam aus einer vorbildlichen lutherischen Familie. Er hat die lutherische Lehre praktisch mit der Muttermilch aufgesogen. Später studierte er, ein Genie der alten biblischen Sprachen, Theologie und lehrte dann an der Universität Leipzig. Als er im Herbst 1687 in Lüneburg eine Predigt über Joh. 20,31, mit dem Thema „Der wahre, lebendige Glaube“ halten wollte, merkte er, dass er selbst diesen Glauben nicht hatte. Das führte ihn in tiefste Glaubenszweifel, die ihn praktisch alles, was er bis dahin für richtig gehalten hatte, infrage stellen ließen. Am Ende zweifelte er sogar an der Existenz Gottes. Darüber war er tief erschüttert und bat Gott verzweifelt um Hilfe und Rettung. Gott antwortete auf das verzweifelte Gebet Franckes: „Da erhörte mich der Herr, der lebendige Gott (…) denn, wie wenn man eine Hand umwendet, so waren alle meine Zweifel hinweg, ich war versichert in meinem Herzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich konnte Gott nicht mehr allein Gott, sondern meinen Vater nennen (…)“. Der Glaube war endlich im Herzen Franckes angekommen. Damit änderte sich alles in Franckes Leben. Er erkannte, dass zur rechten Lehre auch das rechte Leben gehört. Ohne Jesus im Herzen nützt die beste Lehre nichts. So begann er den Menschen ins Gewissen zu predigen; er rief sie auf, ganze Sache mit Gott zu machen. Im Laufe seines Lebens hat er vor vielen zehntausenden Menschen gesprochen, vom einfachen Bauern bis hin zum König von Preußen, und sie zu Buße und Umkehr gerufen. Dabei blieb er der lutherischen Lehre eng verbunden. In allem fußte seine Verkündigung auf der Bibel als dem rettenden Wort Gottes. Aber alles nützt nichts, wenn man es im Glauben nicht ergreift und sein Leben bewusst mit Jesus leben will.

„Gerettet sein gibt Rettersinn!“, das verwirklichte sich im weiteren Leben von A. H. Francke. Weil er sich selbst als Verlorenen erlebt hatte, der von Gott gerettet wurde, sah er nun auch die Menschen um sich herum, die ohne Gott verloren waren. Das war sein innerer Antrieb, der ihn in Liebe viele neue Wege zu den Menschen seiner Zeit gehen ließ. Er wollte ihnen in ihrer inneren und äußeren Not helfen. Nie gründete er ein Werk einfach so, sondern nur, wenn er den Eindruck hatte, dass es Gottes Wille sei. Nie bat er um Spenden für seine Werke, sondern vertraute Gott, dass er ihn mit allem Nötigen versorgen würde, denn es war ja Gottes Werk, das er betrieb. Dadurch wurde Francke zu einem Pionier der inneren Mission, einem Erneuerer der Pädagogik und indirekt zum Mitbegründer der ersten evangelischen Heidenmission. Am 9. Juli 1706 kamen Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau, die in Halle vom Pietisten Francke geprägt und ausgebildet worden waren, in Indien, in der dänischen Kolonie Tranquebar an. Der dänische König hatte sie persönlich dorthin entsandt, um den Tamilen das Evangelium zu verkünden. Bald schon unterstützte ihr alter Lehrer Francke sie finanziell und organisatorisch und sammelte die Missionsfreunde. Er gründete eine Missionszeitschrift und versorgte sie mit Nachrichten aus den Missionsgebieten. Die dänisch-hallische Mission war geboren. Durch Francke wurde Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zur äußeren Mission angeregt und Georg Müller zum Bau seiner berühmten Waisenhäuser in Bristol animiert. Und nicht zuletzt durch Franckes Liebe zum Wort Gottes wurde in den Franckeschen Stiftungen die erste Bibelgesellschaft Europas gegründet, die billig Bibeln für jedermann druckte und schon zu Lebzeiten Franckes hunderttausendfach verkaufte, die Cansteinsche Bibelanstalt.

Am Ende möchte ich nochmal einige Dinge kurz betonen, die ich für wesentlich halte, um den großen Glaubensmut und das geistliche Unternehmertum Franckes besser verstehen zu können:

  1. Es entstand aus dem persönlichen Erleben des verloren – und gerettet Seins! Dadurch bekam Francke einen Blick für die Verlorenen und die Nöte seiner Zeit.
  2. Die vielen sozialen und missionarischen Werke sind Kinder seiner Verkündigung. Er konnte nicht von der Liebe Gottes predigen und die Augen vor der Not der Menschen verschließen.
  3. Er gründete nie etwas als Selbstzweck, sondern immer nur, wenn er die Gewissheit hatte, dass es von Gott geführt war.
  4. Er verließ sich völlig auf die Versorgung mit allem Nötigen durch seinen Vater im Himmel.
  5. Bei all dem blieb er hauptsächlich ein Prediger des Wortes Gottes und ein Theologe, der die Liebe zum Wort Gottes und der reinen Lehre hochhielt. Das bewahrte ihn und seine Werke davor, ins Schwärmerische abzudriften.

Lassen sie mich am Ende fragen: Wo gehen sie und ich, im Vertrauen auf Jesus Christus, mutige Glaubensschritte zu den verlorenen Menschen in unseren Städten und Dörfern?

Ich wünsche mir, dass wir uns dazu von A. H. Francke inspirieren und ermutigen lassen.