Ausgabe Juni / Juli / August 2022 –  Tobias Wagner

„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ – so fragte der Philosoph Richard David Precht vor einigen Jahren in seinem gleichlautenden Millionen-Bestseller. Wer bin ich? Eine Frage, die viele umtreibt in Zeiten, in denen das „Image“, das Bild, das man von sich selbst nach außen vermitteln möchte, sei es auf Instagramm oder Facebook, wichtiger ist als die echte Persönlichkeit – vielleicht, weil ein Bild strahlender und blendender sein kann als eine wirkliche Persönlichkeit mit ihren Ecken und Kanten. Um interessant zu bleiben, ist natürlich auch der Imagewechsel von Zeit zu Zeit unbedingt von Nöten. Man spricht davon, sich wieder neu zu erfinden. Alles ist erlaubt, nur nicht langweilig!

Wer bin ich, dass fragen sich viele in unserer Gesellschaft, die immer älter wird, in der Krankheiten wie Demenz und Alzheimer zu gefürchteten Volkskrankheiten werden. Wie bei Peter Pan hat man nicht mehr alle „Murmeln“ beisammen, die in der Peter-Pan-Geschichte für persönliche wunderbare Erinnerungen stehen und hat Angst, mit seinen Erinnerungen seine Persönlichkeit zu verlieren.

So fragen sich heute die Leute eher: „Wer bin ich und wenn ja, wie lange?“

Identitätsstiftende Faktoren

Der christliche Diplom-Psychologe Roland Antholzer definiert: „Identität ist die Antwort, die ein Mensch sich selbst gibt, wenn er vor der Frage steht: ‚Wer bin ich?‘“. Diese Antwort ist dabei von verschiedenen Faktoren abhängig, die gleich einem Puzzle aus vielen Teilen ein Ganzes, ein Bild, unsere Identität zusammensetzen.

Das sind:

  1. Physische oder körperliche Fähigkeiten: Geschlecht, Rasse, Größe, körperliche Fähigkeiten usw.
  2. Unsere Lebensgeschichte: Elternhaus, Erziehung, Beruf, erbrachte Leistungen, Versagen, Erfahrungen, Traumata usw. Besonders der erlernte oder ausgeübte Beruf ist bei vielen Menschen der Stützpfeiler ihrer Identität. Die Erwerbstätigkeit unterteilt das Leben in Ausbildung, Berufsausübung und Ruhestand.
  3. Unsere sozialen Beziehungen: Familie, Freunde, Mitschüler, Kommilitonen, Arbeitskollegen, Nachbarn, Vereinsmitglieder, Geschwister in der Gemeinde, unsere Nationalität usw.
  4. Unsere Vorlieben und Interessen: Wohnort, Einstellungen, Meinungen, was wir ablehnen, wen oder was wir bewundern, Aktivitäten, unser Beruf, Personen, die wir gerne beeindrucken möchten usw.
  5. Grenzen, die wir setzen oder entfernen: Gruppenzugehörigkeit, Ehestand usw.
  6. Identität ist im Wandel begriffen. Unser Körper altert und verändert sich; ebenso machen wir ständig neue Erfahrungen. Darum ist Identität, soziologisch betrachtet, nie eine abgeschlossene Sache
  7. Identität schließt einen Sinn für die Zukunft ein: Wir alle haben Gedanken, was wir als nächstes tun oder werden wollen, welche Ziele wir erreichen wollen. Das geht nicht ohne einen gewissen Sinn für das Zukünftige.

 

Aus diesen vielen Puzzleteilen setzt sich bei jedem Menschen ein einzigartiges Bild zusammen, das zeigt, wer er ist.

Identitätskrisen

Gleichzeitig wird aber auch klar, dass unsere Identität offensichtlich ein sehr fragiles Gebilde ist. Wenn zu viele dieser Punkte im Wandel sind oder wegfallen, kommt man schnell in eine Identitätskrise. Wenn z.B. die körperlichen Fähigkeiten nachlassen oder durch einen Unfall massiv eingeschränkt werden und man seine Identität vor allem durch seine Sportlichkeit bestimmt hat, führt einen der Verlust der körperlichen Fähigkeiten zwangsläufig in eine Phase der Neubestimmung. Man muss für sich die Frage neu beantworten „Wer bin ich“. Oder aber der Beruf wird einem durch Arbeitslosigkeit genommen, die Familie durch Tod oder Trennung. Letztlich ist jeder identitätsstiftende Faktor dazu geeignet, einem enorme innere Schwierigkeiten zu bereiten. Jeder dieser Identitätsfaktoren ist veränderlich oder kann sogar ganz wegbrechen.

Und plötzlich ist die Frage: „Wer bin ich“ für einen persönlich nicht mehr befriedigend zu beantworten. Man fühlt sich orientierungslos. Diese innere Orientierungslosigkeit ist für den Menschen nur schwer zu ertragen. Im schlimmsten Fall führt sie zu einem völligen Abbruch des Lebensmuts bis hin zu Selbstmord.

Ein Christ hat seine Identität in Christus

All das, was hier beschrieben ist, betrifft jeden Menschen, egal ob er Christ ist oder nicht. Was ist nun der Unterschied bei Christen? Bei Christen kommt zu den identitätsbestimmenden Faktoren noch einer dazu: ihr Glaube. Das Wissen, dass wir geschaffen sind, gewollt sind und der Glaube an Jesus Christus als unseren Retter macht bei einem Christen immer den Unterschied. Die Frage ist nur, wie sehr geben wir dem Glauben in uns die Möglichkeit, sich zu entfalten? Ist der Glaube ein weiterer Punkt, ein weiteres Puzzleteil meiner Persönlichkeit, also Punkt acht der obigen Aufzählung?

Das Problem dabei ist aber, dass jede der oben aufgezählten identitätsstiftenden Faktoren immer nur einen Teil meiner Identität beschreibt und veränderlich oder sogar auslöschbar ist. Er ist nur ein Faktor unter vielen. Damit berühren wir ein sehr seelsorgerliches Thema. Mancher hat ja diese Angst: Kann mir der Glaube wegbrechen? Kann mich Gott vergessen oder kann ich Gott vergessen? Wenn der Glaube nur ein Faktor ist, der meine Identität mitbestimmt, dann ist er letztlich so fragil oder man kann auch sagen unzuverlässig wie die anderen Punkte auch. Ich glaube, bei einem Christen ist etwas völlig anders als bei den Mitmenschen, die ohne Jesus leben. Unser Glaube soll nicht nur ein identitätsstiftender Punkt unter vielen sein, sondern er ist unsere Identität. Ich bin Christ und …. Als Christen leben wir nicht

mehr unser erstes Leben, sondern schon das zweite, das eigentliche Leben. Dieses Leben ist uns von Jesus erkauft und es ist ewig. In Röm. 6,8 erklärt Paulus, dass wir mit Christus gestorben sind und durch ihn ein neues Leben geschenkt bekommen haben. In 2. Kor. 5,17 sagt er es noch deutlicher: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur (…)“. In Gal. 2,20 stellt er fest: „Und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir (…)“.

Christus als Kern der neuen Identität trägt auch durch Identitätskrisen.

Was macht also die Identität eines Christen aus? Es ist Jesus! Auf die Frage: „Wer bin ich?“, müsste meine Antwort lauten: „Christus in mir“. Er ist der tiefste Urgrund meiner Identität. All die Faktoren, die normalerweise die Identität eines Menschen bestimmen, werden beim Christen normiert durch Christus; durch das neue Leben und die neue Identität, die er schenkt. Natürlich erleben auch Christen Lebenskrisen, wenn die identitätsbestimmenden Faktoren wegbrechen. Aber sie können uns nie wirklich unsere wahre Identität nehmen, denn der Grund unserer Identität liegt nicht mehr in uns selbst, sondern in Christus und ER ist unveränderlich. Dieses neue Leben kann uns niemand entreißen. Erlauben Sie mir eine letzte seelsorgerliche Bemerkung. Etwas weiter oben sprach ich kurz Alzheimer und Demenz an. Krankheiten, vor denen sich auch Kinder Gottes fürchten. Sie verändern zum Teil die Persönlichkeit oder den Charakter.

Und mancher fragt sich: Was ist, wenn ich mal nicht mehr weiß, wer ich bin oder dass Jesus mein Herr ist. Hier möchte ich Ihnen Mut und Trost zusprechen. Wenn aus der obigen Liste alle Punkte wegfallen würden, würde doch immer noch Christus als Kern Ihrer Identität übrigbleiben. Selbst wenn ich krankheitsbedingt vergessen würde, dass Er zu meiner Identität gehört, Er vergisst mich nicht!

Dietrich Bonhoeffer schrieb im Juni 1944, nachdem er schon über ein Jahr wegen Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Gefängnis Tegel saß, das Gedicht „Wer bin ich?“ Er erlebte, wie in dieser Zeit alles in seinem Leben wegbrach. Dieses Gedicht ist ein erschütterndes Zeugnis dieser existentiellen Identitätskrise, in die ihn das führte. Nichts war mehr sicher, selbst das eigene Leben nicht mehr selbstbestimmt. Sein Gedicht „Wer bin ich?“ wechselt am Ende den Ton und richtet den Blick weg von den identitätsstiftenden Faktoren, die ihm alle einer nach dem anderen genommen werden, hin auf das, was am Ende trägt und bleibt.

„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir das aus tiefstem Herzen bejahen können: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“