Ausgabe März / April / Mai 2022 – Christian Schwarzrock, Hof
Es gibt wahrscheinlich kein Gleichnis, das häufiger und intensiver ausgelegt wird, als das in Lukas 15 vom verlorenen Sohn. Darin nehme ich Sie und euch hier mit. Keine davon ist die „einzig“ wahre Auslegung, sondern jede hat für sich eine Berechtigung.
I) Als erste Möglichkeit stelle ich uns die allegorische Auslegung vor. Eine Allegorie umschreibt abstrakte, also schwer fassbare Begriffe wie Gerechtigkeit oder Liebe. Wenn mir meine Kinder ein Herz auf Papier malen, dann sagen sie damit: „Papa, ich habe dich lieb!“ Das Herz ist eine Allegorie für das, was sie sonst nur schwer ausdrücken könnten. Im verlorenen Sohn – allegorisch ausgelegt – steht jedes bildhafte Detail der Geschichte für eine Deutung. So wird z.B. der Vater in der Geschichte zu Gott, der unbekannte Schweinebesitzer ist der Teufel mit seinen Dämonen, die Knechte des Vaters werden das Volk Gottes usw.
II) Die Kirchenväter Irenäus und Hieronymus prägten die sog. soteriologische (heilsgeschichtliche) Sicht. Was ist heilsrelevant? Die Hauptaussage dieser Auslegung ist, dass der jüngere Sohn (der Mensch) durch sein Verhalten zum Sünder wird. Durch seine Umkehr zum Vater, kann er das Heil wieder finden und aufgenommen werden. Im Gegensatz zum jüngeren Sohn, ist der ältere innerlich von Gott getrennt. Im Gleichnis finden beide Söhne schließlich ihr Heil darin, dass sie sich ins Vaterhaus zu Gott bewegen.
III) Die ethnische Auslegung beschäftigt sich mit ganzen Volksgruppen. Der jüngere Sohn steht für die Heidenvölker, die im Götzendienst leben. Sie wenden sich unzähligen Dingen und anderen Göttern zu, statt Gott zu ehren. Der ältere Sohn steht für das Volk Israel, das bei Gott ist. Aber es ist verstockt und lebt nur eine traditionelle Beziehung zu ihm. Das Herz geht ihnen verloren.
IV) Die sakramentale Auslegung beschäftigt sich mit der Kirche oder den Christen. In Lukas 15,12 verteilt der Vater die Güter. Diese Verteilung steht für die Taufe, in der alle alles vom Vater bekommen. Doch der jüngere Sohn fängt an, das Anvertraute zu verschleudern. Er führt ein sündiges Leben und löst sich von Gott. Irgendwann merkt dieser Christ, dass es so nicht geht. Er kehrt um und kommt wieder zur Kirche und zum Vater. Dort wird er wieder aufgenommen. Der ältere Sohn steht für einen Christen, der letztlich mit seiner Kirche und dem Vater unversöhnlich bleibt.
V) Die anthropologische Auslegung schaut auf den Menschen. Wie ist der Mensch? Was will er? Was tut er? Was macht ihn aus? Wir sehen hier Sehnsucht nach Freiheit und Eigenständigkeit. Als der Sohn nach seinem Scheitern umkehrt, hat er das Bedürfnis nach dem Notwendigen, nach Essen, Trinken und Sicherheit. Im älteren Sohn finden wir zornige Seiten, Unversöhnliches, ebenso eine Unbarmherzigkeit gegenüber den eigenen Mitmenschen. In der anthropologischen Auslegung wird am Ende deutlich, dass beide, der Jüngere und der Ältere auf Hilfe von außen angewiesen sind. Ohne den Vater bleiben sie im Verderben.
VI) Die theozentrische / theologische Auslegung nimmt Gott in den Blick. Sie fragt: Wie ist der Vater? Er ist barmherzig, gnädig, freundlich, liebevoll, gewinnend und ohne Druck. Er wird nicht zornig oder reagiert mit Wut. Er geht den Söhnen nach und gibt ihnen freiwillig, was er hat. Er behält die besten und liebevollsten Eigenschaften, die zum Leben führen.
VII) Eine eher ungewohnte Sichtweise ist die tiefenpsychologische Auslegung. Anselm Grün könnte man hier als Vertreter nennen. Das Gleichnis beschreibt eine Art Innensicht von Menschen. Die beiden Söhne zeigen, wie „ich“ mich in unterschiedlichen Situationen verhalte. Manchmal bin ich rebellisch, kämpferisch, aktiv und fordernd wie der jüngere Sohn. Das bietet jedoch auch die Gefahr des Scheiterns, des Verlustes, der Beziehungsabbrüche und mancher Zerstörung. Auf der anderen Seite bin ich angepasst, ziehe mich zurück und lasse Dinge mit mir machen. So komme ich durch vieles leichter hindurch. Die Gefahr ist aber ein unerfülltes, eingeengtes Leben. In der Tiefenpsychologie haben beide Seiten ihren Platz bei Gott. Er ist der, der sie klärt und zum Frieden in sich führt.
VIII) Die letzte Auslegung ist die kontextuelle Auslegung von Lukas 15. Besonders die ersten beiden Verse des Kapitels sind entscheidend. Die „bösen“ Sünder haben hier ein Interesse an Jesus und kehren zu ihm und dem Vater um. Aber die „guten“ Frommen sehen nur, wie unnormal sich Jesus zu ihnen verhält. Dann erzählt Jesus drei Gleichnisse. In allen geht es um Verlorenes, das gefunden wird. An jedem Ende gibt es ein Freudenfest über das Gefundene. Im Zusammenhang sagt Jesus: „Freut euch über einen Sünder, der umkehrt! Feiert und seid fröhlich!“
Ich persönlich finde diese Sicht besonders stark, denn sie legt den Fokus nicht auf Negatives, die Sünde oder eine vorhandene Schuld. Niemand möchte gern an sein Versagen und seine Fehler erinnert werden. Vielmehr betone ich gern das Schöne und die Freude, wenn Gott mit uns Menschen zum Ziel kommt. Und wenn er das tut, dann möchte ich gerne mitfeiern. Möchtest du das auch?