Ausgabe Oktober / November 2017 – Christian Hertel, Roth

 

Woher kommt unser Gewissen?
Für Luther begann die Antwort auf die Frage: „Was sollen wir tun“ – die Theologen nennen die Klärung dieser Frage auf der Grundlage der Bibel: „Ethik“ – mit dem Wort Gottes.

 

„Es hat die Seele nichts anderes, weder im Himmel noch auf Erden, wo- rin sie leben kann, recht, frei und Christ sei, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes von Christus gepredigt. … Daher müssen wir nun gewiss sein, dass die Seele aller Dinge entbehren kann bis auf das Wort Gottes, und ohne Gottes Wort ist ihr durch gar nichts geholfen.“, schreibt er in seiner Ausarbeitung „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aus dem Jahre 1520.

Werke sind ohne Überzeugung (Glauben) nicht denkbar
Eine sinnvolle Antwort auf die Frage der „Werke“ – unseres praktischen Handelns – war für Luther nicht denkbar ohne den Glauben. Es braucht den Glauben der Gebote Gottes, die uns Scheitern und Gottlosigkeit vor Augen führen. Und wir dürfen glauben, was uns die gute Botschaft des Neuen Testamentes zuspricht: das Gott in Christus unseren Tod gestorben ist, die Strafe für unsere Gottlosigkeit getragen hat und uns neu macht. Wer das nicht glaubt – es nicht verinnerlicht hat, bleibt auf unselige Art damit beschäftigt, bei Gott und Menschen „Punkte zu sammeln“. Vielleicht wird er beständig von seinem Gewissen geplagt, weil das alles nicht genügt. Oder er bleibt stecken in Stolz, Selbstgerechtigkeit, Selbstzweck und Selbstrechtfertigung. Wer sich nicht auf Christus verlässt bleibt „in sich verkrümmt“. Er bleibt letztlich ein hoffnungsloser Egoist. Seine Möglichkeiten auf die Frage: „Was sollen wir tun?“ Antwort zu geben bleiben sehr begrenzt. Er wird kaum mehr sagen können als: „Was sich für mich auszahlt!“

Es ist nicht gleichgültig, wie wir leben
So radikal und zugespitzt, wie Luther formulierte, dass Christus uns frei macht – auch frei vom Gesetz – konnte es zum Missverständnis führen, dass gleichgültig ist, wie wir leben. Gott vergibt ja sowieso. Dem widerspricht er, denn der Glaube führt dazu, dass wir auf uns selbst und den anderen Acht haben. Wie wir leben soll dazu passen, dass Christus in uns lebt. Luther spricht hier von „maßvoller Zucht“ und davon, dass unser „äußerer Mensch“ sich hier „widerspenstig“ zeigt, „der Welt dienen und suchen will, wozu es ihn gelüstet.“ Freiheit ist für Luther die Bereitschaft, Gott zu dienen – und das aus freier Liebe zu ihm und den Menschen, die er liebt. Und damit schließt sich dann ein Kreis, weil es Gottes Wort ist, dass und lehrt, was das heißt, Gott zu dienen und so zu leben, dass sein Wesen an uns sicht- bar wird.

Wer prägt das Gewissen?
Es ist das eine Wort Gottes, das Nachfolger Jesu leiten will in der Antwort auf die Frage: „Was sollen wir tun?“ Das Gewissen ist dabei eine Hilfe, über das eigene Handeln nachzudenken, zu reflektieren, was geschehen ist oder zu überlegen, wie man sich selbst verhalten würde. Da- bei wird das Gewissen auch beeinflusst von Erwartungen, die man an sich selbst oder jemand anderes an uns richtet. Das Verantwortungsgefühl, das uns zwischen “gut und böse“ unterscheiden lässt, wird geprägt und wir feilen lebenslang an unserer Urteilskraft. Wesentlich beteiligt sind die, die wir als Autoritäten in unserem Leben akzeptieren. Deshalb kann das Wort Gottes bei der Bildung des Gewissens eine wichtige Rolle spielen, wenn wir seine Autorität akzeptieren. Kann es dann sein, dass die Antworten zunehmend individueller, immer persönlicher ausfallen – so wie „Wahrheit“ immer individueller wird? Oder müssten wir mehr um gemeinsame Überzeugungen ringen? Müssten wir unsere Zeit für Gebets- und Gesprächszeiten energischer verteidigen? Wie viel Zeit darf es kosten um über geistliche Einsichten und Überzeugungen zu ringen und von wem lassen wir uns die Themen diktieren? Welche Rolle spielen gesellschaftliche Veränderungen und das Denken unserer Zeit bei den Antworten, die wir auf die Frage geben „Was sollen wir tun?“ Wo geben wir heute andere Antworten, als unsere Väter? Wo ist das gut so? Und wo ist das fragwürdig? Bestimmt der Auf- trag der Gemeinde die Themen und die Antworten, weil wir ei- ne Sendung in unsere Gesellschaft hinein haben, oder bestimmt unsere Gesellschaft die Themen? Werden wir dabei auch vereinnahmt oder vorgeführt? Luther geht davon aus, dass die Seele durch den Glauben umgehend in Christus frei wird, wir aber mit dem „äußeren Menschen“ lebenslang zu kämpfen haben. Wir sind im Augenblick unserer Entscheidung oder der Begegnung mit Jesus bereits geprägte Menschen, haben unsere Gewohnheiten, Lebens- und Überlebensstrategien, Re- aktionsweisen und Eigenheiten. Wir werden im Augenblick der Bekehrung nicht auf „Null“ zurückgesetzt. Wir nehmen trotz aller Freiheit in Christus uns selbst mit, verfallen in alte Muster oder lernen neue, die ebenso unvollkommen sind. Trotz aller Unschärfe kennt sowohl die Charta der Menschenrechte als auch das Grundgesetz den Tatbestand der Gewissensfreiheit. Auf der einen Seite steht die Überzeugung des Einzelnen, auf der anderen Seite der Gemeinwille oder der Fraktionsbeschluss. Es wird die Abweichung toleriert und akzeptiert, dass im Einzelfall aus Gewissensgründen die persönliche Überzeugung von der allgemeinen Überzeugung abweicht. Damit das nicht missbraucht wird, ist es wichtig, dass die Gewissensbildung bewusst auf das Evangelium antwortet.